Prof. Dr. Wolfgang Seyd verstorben
Ein Nachruf von Prof. Dr. Willi Brand
Wolfgang Seyd starb am 30. Juli 2024 im Alter von 78 Jahren in Hamburg. Von 1978 bis 2012 hatte er die Professur für Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt „Didaktik der Wirtschaftslehre“ im Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg inne. Anders als dieser lange Zeitraum nahelegen mag, deckte Wolfgang Seyd im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit ein außergewöhnlich breites Spektrum an inhaltlichen Schwerpunkten ab. Er selbst nannte einmal zusammenfassend diese Arbeitsschwerpunkte:
- Berufliche Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen
- Berufsvorbereitung und Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher
- Ausbildung der Ausbilder (AEVO)
- Handlungsorientierte Gestaltung von Lernsituationen
Mit seinen nahezu 200 Veröffentlichungen und Workshop-Beiträgen trug er wirksam zur Entwicklung der genannten Schwerpunkte bis in seinen „Ruhestand“ bei. Viele der Arbeiten sind in kooperativen Zusammenhängen entstanden und griffen Fragestellungen auf, die sich für den wissenschaftlich geschulten Betrachter der Praxis stellten. Er wollte immer Praxis verbessern: In den Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, in der Lehrerbildung und in der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen in der Aus- und Weiterbildung. Das geschah nicht ohne aktuelle theoretische Diskussionen zur Kenntnis zu nehmen, aber Theoriebildung wurde von ihm nicht umfangreich eigens systematisch thematisiert. Studierende, Ausbilder und Verantwortliche in den Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation schätzten diesen Zugang. Das zeigte sich zum einen in der Beliebtheit seiner Lehrveranstaltungen, zum anderen in den sehr anspruchsvollen und verantwortungsvollen Aufgaben, die ihm von außerhalb der Wissenschaft übertragen wurden.
Eigene biographische Erfahrungen bildeten die Grundlage für seine pragmatische Haltung. Als einziges Kind seiner Eltern wuchs er in Bremen in einem Geschäftshaushalt auf. Seine Eltern führten als selbständige Kaufleute ein vom Vater gegründetes Uhren-, Optik- und Schmuckgeschäft. Wolfgang Seyd trat nach dem Abitur 1965 eine Lehre als Augenoptiker in Hamburg an und schloss sie als zweitbester Lehrling des Landes ab. Zwar verfolgte er diesen Berufsweg zur Enttäuschung seines Vaters nicht weiter, aber auch Jahrzehnte später noch traf Brillenträger oft ein kritischer Blick auf Sitz und optische Qualität ihrer Brille, manchmal mit dem Angebot verbunden, gleich das Brillengestell zu richten – selbstverständlich in bester Qualität. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hamburg mit den Abschlüssen Dipl. Kaufmann und Dipl. Handelslehrer und trat bald darauf im Berufsförderungswerk Hamburg eine Stelle als „Unterrichtstechnologe und Dozent“ an. 1976 promovierte er mit der vom Wirtschaftspädagogen Lothar Reetz betreuten Dissertation „Adressatengerechte Ausbildungsorganisation und Unterrichtsgestaltung in der beruflichen Rehabilitation Erwachsener.“ Damit waren bereits zentrale Motive seiner Arbeit implizit angesprochen, die später unter Begriffen wie „Inklusion“, „Ganzheitlichkeit“, „Handlungsorientierung“, „Teamarbeit“, „Case Management“ kontinuierlich intensiv im Zusammenhang mit Projekten ausgearbeitet wurden. 1978 folgte die Berufung auf die Professur, die er mehr als 30 Jahre innehatte.
Nachdem er in mehreren Projekten und Veröffentlichungen gezeigt hatte, welche besonderen curricularen und organisatorischen Konsequenzen aus den Zielen einer zeitgemäßen beruflichen Rehabilitation zu ziehen waren, wurde er 1988 mit der Reorganisation des Berufsbildungswerks Bremen beauftragt. Es war eine schwierige Aufgabe, die reichlich Gelegenheiten bot, die Probleme struktureller Verkrustungen einer Organisation mit 240 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und des zugehörigen rehabilitationspolitischen Umfeldes kennen zu lernen. Immerhin gelang es ihm, für die weitere Reorganisation dieser Einrichtung für 400 lern- und körperbehinderte Jugendliche wichtige Orientierungspunkte zu setzen.
Gleich anschließend erhielt er 1990 die Aufgabe, als einer von zwei Projektleitern das Berufsförderungswerk Stralsund aufzubauen. Ein außerordentlich reizvoller, aber auch herausfordernder Auftrag zu Beginn der „Wende“. Er umfasste die Beschaffung und Ausstattung geeigneter Gebäude, Rekrutierung und Qualifizierung des Personals für weitgehend neue Aufgabenprofile sowie die Entwicklung einer auf die neuen Aufgaben zugeschnittenen Organisationsstruktur. Sie setzte den Rahmen für Arbeitsprozesse, die von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aktiv mitgestaltet werden sollten, obwohl es nur partiell einschlägige Erfahrungen gab. Da waren auf allen Ebenen und in allen Bereichen Überzeugungsarbeit und großes Führungsgeschick gefragt. 1992 war die Sollstärke mit 400 Ausbildungsplätzen bei einer Personalstärke von 150 erreicht und das Berufsförderungswerk Stralsund hat in über dreißig Jahren vielen Menschen mit Handicap eine neue berufliche Zukunft eröffnet.
1994 wurde er auf eine Vertretungsprofessur an der Gesamthochschule Kassel berufen, um dort an der Entwicklung eines Aufbaustudiums „Pflege“ mitzuwirken. Während dreier Semester hat er sehr intensiv mit einschlägigen Hochschulgremien, Berufsorganisationen, Studierenden, Pflegeeinrichtungen und den zuständigen staatlichen Stellen an dieser Pionieraufgabe gearbeitet und ein Konzept für einen Studiengang erstellt. Das wurde dann jedoch zu seiner großen Enttäuschung, letztlich aus fiskalischen Gründen von der hessischen Landesregierung nicht realisiert. Die weitere Entwicklung im Pflegebereich zeigte, dass diese politische Entscheidung nicht zukunftsfähig war.
Im letzten Jahrzehnt seines Wirkens an der Universität Hamburg standen neben der Lehre in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik Projekte zur beruflichen Rehabilitation im Zentrum seiner Tätigkeiten. Hervorzuheben ist „Das Neue Reha-Modell der Berufsförderungswerke“, das von einer Arbeitsgruppe unter seiner Leitung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke wissenschaftlich begleitet wurde. In ihm kulminierten die Erfahrungen, die in vorhergehenden Projekten mit unterschiedlichen Beteiligten gemacht wurden. Im Sinne der „Handlungsforschung“ wurden Ziele und Vorgehensweisen des Modells im intensiven Austausch mit allen Beteiligten aus den 28 Berufsförderungswerken konkretisiert und umgesetzt. Kernelemente waren im Bereich von Organisations- und Personalentwicklung die konsequente Etablierung und Begleitung interdisziplinärer Teams von Ausbildern, Sozialarbeitern, Psychologen und Ärzten und auf der Ebene der Arbeit mit den Rehabilitanden die Individualisierung von ganzheitlich verstandenen Lehr-Lernprozessen mit der entschiedenen Ausrichtung auf eine berufliche Integration. Wesentliche Instrumente der Projektsteuerung durch die wissenschaftliche Begleitung waren 11 Positionspapiere, 14 deutschlandweite Fachtagungen, Fragebogenerhebungen bei Teilnehmern und Mitarbeitern, regelmäßige Konferenzen in den Bundesländern. Die Komplexität des Projektes wurde noch dadurch gesteigert, dass sich während der Laufzeit aus dem politischen Umfeld eine Vielzahl neuer Anforderungen ergaben. Dazu gehörten die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mit der zentralen Forderung nach Inklusion, im neuformulierten Sozialgesetzbuch grundlegende Änderungen der Bestimmungen zur Rehabilitation behinderter Menschen (u. a. SGB IX) sowie die von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene „International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“. Auf allen diesen Feldern war Wolfgang Seyd versiert in der rechtlichen Interpretation und in der Erfassung der Konsequenzen für die berufliche Rehabilitation. Seine Expertise war deshalb weit über das Projekt hinaus bei Fachleuten gefragt und Studierende erhielten profunde Einblicke in Zusammenhänge berufs- und wirtschaftspädagogischer Arbeitsfelder. Der langjährige Vorsitz im Alumni-Club des Instituts war ein sichtbares Zeichen seiner Verbundenheit mit der Universität.
In seinen vielen Projekten, Publikationen, Vorträgen zeigt sich eine stupende Arbeitsleistung. Aber sein Handeln erschöpfte sich nicht darin. Er war sportlich aktiv, absolvierte einige Dutzend Marathonläufe, segelte begeistert auf der Schlei und anderswo und musizierte mit großem Vergnügen auf unterschiedlichen Instrumenten (von der omnipräsenten Mundharmonika bis zum Flügel) im Kreis von Freunden und bei Projekttagungen. Ohne seine sozialen Fähigkeiten wären die hohen Anforderungen aus den Projekten nicht zu bewältigen gewesen. Auch nach Jahrzehnten fühlen sich viele Mitglieder aus den Teams im Bereich des „Neuen Reha-Modells“ und universitäre Kolleginnen und Kollegen mit der Persönlichkeit Wolfgang Seyds in respektvoller Freundschaft verbunden. In ihrer Trauer denken sie an seine Familie, insbesondere an seine Ehefrau, die einen großen Anteil an seiner Lebensleistung hat und die ihm vor allem in seinen letzten Lebensjahren trotz der Einschränkungen durch Morbus Parkinson ein lebenswertes Leben ermöglichte.